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Birgit Lutz

In ihrer Polarkolumne, die ab 2021 immer freitags auf unserer Homepage neu erscheint, schreibt die Expeditionsleiterin und Autorin Birgit Lutz über alle Themenfelder der Polarregionen - von großen Erlebnissen und kleinen Momenten auf eigenen Reisen über aktuelle Entwicklungen in Arktis und Antarktis bis hin zu praktischen Informationen für Ihre Reisevorbereitung oder Empfehlungen zur Polarliteratur.

Notizen aus dem Eis 119 | Wie Grönland mich das Gendern lehrte

Eine Freundin von mir lernt nun grönländisch. Ein Versuch, den ich auch einmal gestartet habe. Grönländisch kann ich bis heute nicht, aber gelernt habe ich sehr viel dabei.

Ich bin einigermaßen sprachbegabt; sobald ich eine Sprache ständig höre, verstehe ich sie irgendwann auch oder kann sie zumindest lesen. Das heißt, bei relativ einfachen Sprachen ging mir das so, italienisch und niederländisch habe ich hauptsächlich durchs Zuhören und immer mutigere Sprechversuche gelernt, auch mein Schulfranzösisch wurde schlagartig besser, als ich es in Frankreich mal vier Wochen hören und reden musste. Sprachen, das kann ich, dachte ich. Dann kam ich nach Grönland.

Grönländisch ist eine jener Sprachen, bei der man keine Wörter erkennt, man hört nicht, wann das eine aufhört und das andere anfängt, und was ein Satz ist, hört man auch nicht. Man kann sich, wenn man Grönländisch hört, nicht einmal vorstellen, wie das Gesprochene denn nun geschrieben werden soll, denn es gibt in dieser Sprache Laute, die können weder unsere Münder formen noch unsere Hirne denken.

Grönländische Wörter sind manchmal ellenlang. Das sehe ich in Texten meiner grönländischen Facebook-Verbindungen, und viele Buchstaben kommen immer gleich doppelt und dreifach vor. Die Wörter haben eine Wurzel und bekommen dann Elemente voran und hintendran gestellt, und können somit schlussendlich einen ganzen Satz formen, in einem Wort, ohne Komma. Eine komplexe Angelegenheit.

Mangels Wörterbuch bat ich in Grönland verschiedene Menschen, mir Sätze aufzuschreiben, danke (qujanar), bitte (iddida), hallo (aluu), guten Tag (gudda). Es war noch viel mehr, aber das ist alles, was ich mir gemerkt habe. Ich zweifelte an meinem Gedächtnis, denn kaum hatte ich einen Satz vermeintlich gelernt, hatte ich ihn zehn Minuten später wieder vollkommen vergessen. Weil mich Grönländisch an nichts Bekanntes erinnerte, ich konnte mir nichts vorstellen darunter oder erschließen oder erfühlen. Ich verdrehte Silben und tauschte Vokale und sorgte für viele Lacher. Noch dazu verwirrten mich viele meiner Lehrerinnen und Lehrer, denn sie schrieben mir nicht nur Ostgrönländisch auf, sondern auch West- oder Südgrönländisch, was angeblich verschiedene Dialekte sind, aber für mich vielmehr so klingt, als seien es vollkommen verschiedene Sprachen.

Grönländisch ist eine für mich sehr wohlklingende Sprache, die Orte oder Dinge weniger benennt, sondern vielmehr beschreibt. „Fjord, in dem es viele Fische gibt“, „Fluss, in dem viele Forellen schwimmen“, „Wiesen, auf denen Beeren wachsen“ – solche „Namen“ haben viele Orte; für uns klingen sie wie ein einziges Wort, doch es sind Beschreibungen.

Sprachen sind etwas Wunderbares, das finde ich schon mein ganzes Leben. Mit Sprache kann man Dinge beschreiben, Verstecktes aufdecken, Komplexes verständlich machen; man kann Bilder malen und ganze Welten durch Worte erschaffen.

Sprache allerdings, und das habe ich viel weniger an der Uni, wo ich das Ganze ja auch studiert hätte, als vielmehr in Grönland gelernt, bestimmt auch unser Denken. In Grönland habe ich, Obacht Wutbürger, gelernt, warum Gendern sinnvoll ist. Denn dort wurde mir mit der Zeit klar, dass Sprache, so unglaublich erweiternd und Universen eröffnend sie sein kann, auch ganz schrecklich begrenzend, beschränkend, einschränkend sein kann. Nämlich dann, wenn Wörter fehlen. Wofür man aber keine Wörter hat, das kann man nicht denken, das kann man sich nicht vorstellen. Eine Welt mit wenigen Wörtern bleibt im Kopf eine kleine Welt.

Das Grönländische war lange eine rein gesprochene Sprache, sie ist es im Grunde immer noch, denn, wenn ich mich nicht irre, gibt es noch immer keine festen Schreib- oder Grammatikregeln, und so heißt Tassilaq mal Tasiilaq oder Tassilak auf unterschiedlichen Karten. Es wurde über das gesprochen, was es in Grönland gab, eben die Tiere, die Natur, die Dinge und Orte mit und an denen man lebte. Dafür gab es Wörter in dieser Sprache, es hält sich ja die Mär, die Grönländer hätten hundert Namen für den Schnee. Das stimmt wohl nicht, aber ein paar gibt es schon.

Weil nun an aber vor allem die in Ostgrönland lebenden Menschen so lange keinen Kontakt zu anderen Völkern hatten und bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch in Erdhäusern, plakativ gesagt, in der Steinzeit lebten, gab es dort viele Dinge eben lange nicht, und folglich auch keine Wörter dafür. Flugzeug, Steuererklärung, Excel-Tabelle, Telefon. Nicht einmal: Baum.

In einem meiner langen Gespräche für mein Buch sagte einer meiner grönländischen Gesprächspartner, er sei todunglücklich gewesen, als er als Jugendlicher nach Dänemark zur Schule musste, Dänemark sei so wahnsinnig anstrengend gewesen für ihn. Als ich fragte, was denn so anstrengend an Dänemark sei, sagte er: Dort gibt es so viele Bäume.

Diesen Satz werde ich nie vergessen. In diesem Satz steckt so viel. Unter anderem begann ich durch diesen Satz nach einer Weile, und nachdem ich noch viel länger über all das Gehörte und Erlebte nachgedacht hatte, zu verstehen, warum Gendern sinnvoll ist. Warum? Das ist ganz einfach: Alles das, was es in der grönländischen Sprache nicht gibt, kann man sich als Mensch, der diese Sprache als Muttersprache lernt, schwieriger vorstellen. Man lernt irgendwann mit Wörtern fremder Sprachen, dass es auch Flugzeuge, Steuererklärungen und Bäume gibt, aber sie bleiben fremd, sie gehören nicht dazu, sie sind, und das ist das Wichtigste: kein integraler Bestandteil der eigenen Weltvorstellung.

Jetzt weiß man, worauf ich hinauswill, nicht? Wenn wir immer nur Arzt sagen, immer nur Schüler, immer nur Kunden, Piloten, Astronauten, dann denken wir unweigerlich alles das vor allem männlich. Das belegen unzählige Studien, auch wenn einzelne Menschen immer wieder behaupten, dem sei nicht so. Sprache bestimmt unser Denken – und in Grönland habe ich verstanden, wie weitreichend Sprache wirklich unsere eigene Vorstellung, das Bild, das wir von der Welt haben, prägt. Und damit auch die Möglichkeiten, die wir für uns selbst sehen. Nur wenige grönländische Kinder können sich vorstellen, auf einen Baum zu klettern, wie sich nur wenige deutsche Mädchen vorstellen können, Pilotin zu werden. Beides wird auch von unserer Sprache beeinflusst. Spannend, oder nicht?

Ein grönländisches Wort weiß ich noch: Tunu. Das heißt: hinten. So wird Ostgrönland im Grönländischen genannt: Das ist das Land, das hinten liegt. Man kann sich gut vorstellen, dass auch diese Bezeichnung das Selbstverständnis der Ostgrönländer in ihrem eigenen Land prägt.

Bis in zwei Wochen!

Eure
Birgit Lutz

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Grönländisch ist eine jener Sprachen, bei der man keine Wörter erkennt, man hört nicht, wann das eine aufhört und das andere anfängt, und was ein Satz ist, hört man auch nicht. Man kann sich, wenn man Grönländisch hört, nicht einmal vorstellen, wie das Gesprochene denn nun geschrieben werden soll, denn es gibt in dieser Sprache Laute, die können weder unsere Münder formen noch unsere Hirne denken.

Grönländische Wörter sind manchmal ellenlang. Das sehe ich in Texten meiner grönländischen Facebook-Verbindungen, und viele Buchstaben kommen immer gleich doppelt und dreifach vor. Die Wörter haben eine Wurzel und bekommen dann Elemente voran und hintendran gestellt, und können somit schlussendlich einen ganzen Satz formen, in einem Wort, ohne Komma. Eine komplexe Angelegenheit.

Mangels Wörterbuch bat ich in Grönland verschiedene Menschen, mir Sätze aufzuschreiben, danke (qujanar), bitte (iddida), hallo (aluu), guten Tag (gudda). Es war noch viel mehr, aber das ist alles, was ich mir gemerkt habe. Ich zweifelte an meinem Gedächtnis, denn kaum hatte ich einen Satz vermeintlich gelernt, hatte ich ihn zehn Minuten später wieder vollkommen vergessen. Weil mich Grönländisch an nichts Bekanntes erinnerte, ich konnte mir nichts vorstellen darunter oder erschließen oder erfühlen. Ich verdrehte Silben und tauschte Vokale und sorgte für viele Lacher. Noch dazu verwirrten mich viele meiner Lehrerinnen und Lehrer, denn sie schrieben mir nicht nur Ostgrönländisch auf, sondern auch West- oder Südgrönländisch, was angeblich verschiedene Dialekte sind, aber für mich vielmehr so klingt, als seien es vollkommen verschiedene Sprachen.

Grönländisch ist eine für mich sehr wohlklingende Sprache, die Orte oder Dinge weniger benennt, sondern vielmehr beschreibt. „Fjord, in dem es viele Fische gibt“, „Fluss, in dem viele Forellen schwimmen“, „Wiesen, auf denen Beeren wachsen“ – solche „Namen“ haben viele Orte; für uns klingen sie wie ein einziges Wort, doch es sind Beschreibungen.

Sprachen sind etwas Wunderbares, das finde ich schon mein ganzes Leben. Mit Sprache kann man Dinge beschreiben, Verstecktes aufdecken, Komplexes verständlich machen; man kann Bilder malen und ganze Welten durch Worte erschaffen.

Sprache allerdings, und das habe ich viel weniger an der Uni, wo ich das Ganze ja auch studiert hätte, als vielmehr in Grönland gelernt, bestimmt auch unser Denken. In Grönland habe ich, Obacht Wutbürger, gelernt, warum Gendern sinnvoll ist. Denn dort wurde mir mit der Zeit klar, dass Sprache, so unglaublich erweiternd und Universen eröffnend sie sein kann, auch ganz schrecklich begrenzend, beschränkend, einschränkend sein kann. Nämlich dann, wenn Wörter fehlen. Wofür man aber keine Wörter hat, das kann man nicht denken, das kann man sich nicht vorstellen. Eine Welt mit wenigen Wörtern bleibt im Kopf eine kleine Welt.

Das Grönländische war lange eine rein gesprochene Sprache, sie ist es im Grunde immer noch, denn, wenn ich mich nicht irre, gibt es noch immer keine festen Schreib- oder Grammatikregeln, und so heißt Tassilaq mal Tasiilaq oder Tassilak auf unterschiedlichen Karten. Es wurde über das gesprochen, was es in Grönland gab, eben die Tiere, die Natur, die Dinge und Orte mit und an denen man lebte. Dafür gab es Wörter in dieser Sprache, es hält sich ja die Mär, die Grönländer hätten hundert Namen für den Schnee. Das stimmt wohl nicht, aber ein paar gibt es schon.

Weil nun an aber vor allem die in Ostgrönland lebenden Menschen so lange keinen Kontakt zu anderen Völkern hatten und bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch in Erdhäusern, plakativ gesagt, in der Steinzeit lebten, gab es dort viele Dinge eben lange nicht, und folglich auch keine Wörter dafür. Flugzeug, Steuererklärung, Excel-Tabelle, Telefon. Nicht einmal: Baum.

In einem meiner langen Gespräche für mein Buch sagte einer meiner grönländischen Gesprächspartner, er sei todunglücklich gewesen, als er als Jugendlicher nach Dänemark zur Schule musste, Dänemark sei so wahnsinnig anstrengend gewesen für ihn. Als ich fragte, was denn so anstrengend an Dänemark sei, sagte er: Dort gibt es so viele Bäume.

Diesen Satz werde ich nie vergessen. In diesem Satz steckt so viel. Unter anderem begann ich durch diesen Satz nach einer Weile, und nachdem ich noch viel länger über all das Gehörte und Erlebte nachgedacht hatte, zu verstehen, warum Gendern sinnvoll ist. Warum? Das ist ganz einfach: Alles das, was es in der grönländischen Sprache nicht gibt, kann man sich als Mensch, der diese Sprache als Muttersprache lernt, schwieriger vorstellen. Man lernt irgendwann mit Wörtern fremder Sprachen, dass es auch Flugzeuge, Steuererklärungen und Bäume gibt, aber sie bleiben fremd, sie gehören nicht dazu, sie sind, und das ist das Wichtigste: kein integraler Bestandteil der eigenen Weltvorstellung.

Jetzt weiß man, worauf ich hinauswill, nicht? Wenn wir immer nur Arzt sagen, immer nur Schüler, immer nur Kunden, Piloten, Astronauten, dann denken wir unweigerlich alles das vor allem männlich. Das belegen unzählige Studien, auch wenn einzelne Menschen immer wieder behaupten, dem sei nicht so. Sprache bestimmt unser Denken – und in Grönland habe ich verstanden, wie weitreichend Sprache wirklich unsere eigene Vorstellung, das Bild, das wir von der Welt haben, prägt. Und damit auch die Möglichkeiten, die wir für uns selbst sehen. Nur wenige grönländische Kinder können sich vorstellen, auf einen Baum zu klettern, wie sich nur wenige deutsche Mädchen vorstellen können, Pilotin zu werden. Beides wird auch von unserer Sprache beeinflusst. Spannend, oder nicht?

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